Einführungsvortrag von Hans-Jürgen Döpp zu
ALMUT AUE „nastagio – eine höllenjagd“, Galerie Schamretta, Frankfurt am Main, 20. März – 29. April 2016.
Der Trieb – ein Höllenhund?
Was gleicht den unheimlichen Freuden erfüllter Rache? Deren Flammen können verzehrender sein als die der Liebe. Und wenn Rache im Mord triumphiert, hat der Täter nicht nur sein verfolgtes Objekt, sondern damit auch sich selber zerstört. „Mord aus verschmähter Liebe“ ist ein kriminalistischer Dauerbrenner. Und wenn – wie immer wieder geschieht – ein Mann seine ihn abweisende Geliebte erschießt und danach sich selbst, dann ist das Paar endlich für ewig vereint. Gehören Rachegedanken zu unserem archaischen Erbe? Hass scheint älter zu sein als die Liebe.
Männer, die dem Zwang folgen, Frauen zu bezwingen, sie zu opfern: in dieser Thematik können wir einen inhaltlichen Anknüpfungspunkt der hier ausgestellten Arbeiten von Almut Aue finden. Wir erkennen Hinweise auf Attacken, Verletzungen und animalische Überwältigungen. Ihre gestisch-expressiven Zeichnungen, mit impulsiver, energiegeladener Hand skizziert, mit tanzendem suchendem Zeichenstift, haben als relativ abstrakte Arbeiten durchaus einen ästhetisch-eigenständigen Charakter. Es lassen sich aber auch Brücken zu Antoni Tàpies schlagen, zu André Masson, zur peinture automatique, die aus dem Unbewussten schöpft.
Aues Zeichnungen speisen sich aus vehementen Emotionen. Doch deren Quellen lassen sich nur ganz verstehen, wenn wir in den Brunnen der Vergangenheit hinabtauchen. Über mehr als 500 Jahre hinweg treten diese quasi „bildungsträchtigen“ Zeichnungen in einen Dialog mit zwei Werken der Renaissance ein. Almut Aues Arbeiten sind eine Resonanz auf ein literatur- und kunstgeschichtliches Thema von permanenter Aktualität. Damit sind sie zugleich von emotionaler wie auch von intellektueller Qualität.-
Eine unheimliche, zugleich spannende Geschichte erzählt uns Boccaccio in seinem Novellen-Zyklus „Dekamerone“, der vor mehr als 650 Jahren erschien.
Nastagio, ein adeliger junger Mann, bewirbt sich um die Liebe einer Dame aus dem Hause Traversari, ohne Gegenliebe zu finden. Die Schönheit der jungen Frau ließ sie hochmütig und hartherzig werden. In dem Maße, in dem seine Hoffnung abnahm, wuchs aber seine Liebe. Soll er sich aus Schmerz das Leben nehmen?! Seine Freunde rieten ihm, Ravenna zu verlassen. Sein Weg führt ihn nach Chiassi. Doch eines Tages, als er wieder ganz in Gedanken an die grausame Geliebte versunken war, befahl er seinen Leuten, ihn alleine zu lassen, um ungestörter seinem Trübsinn nachhängen zu können. Er gelangte in einen Pinienwald. Dort vernahm er das Weinen und Wehklagen eines Weibes, und er erblickte ein wunderschönes nacktes Mädchen mit fliegenden Haaren, das von zwei riesigen, wütenden Jagdhunden verfolgt wurde. Hinterher jagte ein Ritter, der mit dem Degen in der Hand drohte, diese junge Frau zu ermorden.
Nastagio stellte sich dem Ritter entgegen und will das Weib verteidigen. Der Ritter aber entgegnete: „Lass` mich vollbringen, was dieses Weib verdient hat!“ Hochmütig und hart sei sie gewesen, sodass er sich entleibte und deshalb zu ewiger Pein verdammt sei. (Selbstmord galt als Todsünde!) Doch bald darauf starb auch sie, und wegen der Sünde der Hartherzigkeit wurde sie gleichfalls zu den Strafen der Hölle verurteilt. Dort wurde ihnen auferlegt, dass sie vor ihm zu fliehen und er sie wie eine Todfeindin zu verfolgen habe. „Sooft ich sie dann erreiche, so oft durchbohre ich sie mit demselben Degen, mit dem ich mich einst umgebracht, öffne ihr, wie du sogleich gewahren wirst, mit dem Messer die Seite, reiße das harte, kalte Herz, in das weder Liebe noch Mitleid den Eingang zu finden wussten, samt den übrigen Eingeweiden aus ihrem Leibe und werfe es den Hunden hier zum Fraße vor. Dann vergehen nur wenige Augenblicke, und sie ersteht nach Gottes gerechtem Ratschluss durch seine Allmacht nicht anders vom Boden, als ob sie nie getötet worden wäre, und danach beginnen die klägliche Flucht durch mich und die Hunde von neuem. Da geschieht es denn, dass ich sie jeden Freitag um diese Stunde an diesem Platz einhole und so misshandle, wie du sehen wirst“.
Nastagio tritt nach diesen Worten zurück, der Ritter stürzt sich auf das Mädchen, erdolcht es und öffnet mit einem Messer die Seite, um sie auszuweiden. Heißhungrig verschlangen seine Hunde die Innereien. Doch kurz nur darauf erhob sich das Mädchen, als sei nichts geschehen, und Flucht und Verfolgung begannen von Neuem.
Hier – eine diagnostische Zwischenbemerkung. Nehmen wir diese Szene als eine Vision Nastagios: Die Zurückweisung ist für ihn eine Ich-Katastrophe. Die Depression, in die er, der Gedemütigte, sich zurückzog, verwandelte sich hier in Aggression. Der Ritter ist quasi ein Doppelgänger seines Schicksals; über seine Rachephantasien kann Nastagio seine Demütigung kurzfristig in einen Triumph verwandeln. Doch muss die Untat endlos wiederholt werden, da die Phantasie das Trauma nicht aufhebt. Der „Täter“ bleibt unerlöst, die Rache rächt sich am Rächenden.
Evident ist der sexuelle Charakter der Untat: jeden Freitag muss die grausame Geliebte mittels des Degens – einer phallische Aggression – sich einer unentrinnbaren Dauerpenetration unterwerfen, – um dann wieder aufzuerstehen. Das verdammte Paar hat das Ziel aller Liebenden erreicht: als duale Einheit ist es auf ewig vereint. –
Wie aber geht Boccaccios Geschichte weiter? Nastagio macht das visionäre Ereignis sich zunutze, indem er es quasi didaktisch fruchtbar macht. An gleicher Stelle im Wald arrangierte er, wiederum an einem Freitag, ein großes Essen, zu dem auch seine hartherzige Geliebte eingeladen wurde. Und tatsächlich: wieder vernahm man das Geschrei des gejagten Mädchens, und mit gleichen Worten erzählte der Ritter seine Geschichte, bevor er seine grausame Handlung ausführte.
Die Gesellschaft war erschüttert. Vor allem aber war Nastagios grausame Geliebte entsetzt, da sie sich selber in der Geschichte erkannte. Ihr Schrecken vor einem ähnlichen Schicksal führte einen Sinneswandel herbei, verwandelte ihren Hass in Liebe, sodass sie endlich bereit ist, Nastagio zu heiraten. Boccaccio endete die Novelle mit dem Satz: „Es hatte aber jenes Ereignis nicht nur diese eine glückliche Folge, sondern alle Damen Ravennas wurden dadurch so eingeschüchtert, dass sie den Wünschen der Männer seitdem um vieles geneigter geworden sind als zuvor.“-
Der Widerspenstigen Zähmung: Diese Androhung bestimmte auch das Motiv eines vierteiligen Bilderzyklus von Botticelli, der Boccaccios Erzählung illustriert. Diese Tafeln unter dem Titel „Das Gastmahl des Nastagio degli Onesti“ wurden 1483 bei Botticelli als Hochzeitsgeschenke für Gianozzo Pucci und seine Gattin in Auftrag gegeben. Als Dekor eines Hochzeitsgemachs zeigen sie eine Venus, die „in ewiger Ermordung ergeht“ (Didi-Huberman).
Diese Tafeln einer „höllischen Jagd“ nun sind Ausgangspunkt der Zeichnungen von Almut Aue. Mit impulsivem Strich zeigt sie die Leidenschaft im Rohzustand und ent-ästhetisiert, was der einstige Goldschmied Botticelli verklärte. Männer, die die Schönheit morden, werden unter der weiblichen Kompetenz der Künstlerin zu Ungestalten. Derart destruiert sie das Lustprivileg des Mannes in der patriarchalischen Gesellschaft: In einer Manier, die zuweilen an Kinderzeichnungen erinnert, zeigt sie das Regressive der männlichen Haltung, die die begehrte Frau aufs Opfer reduziert. Das reziproke Gegenstück zur Opferung wäre die Opferhaltung der Frau, die sich diesen Männern unterwirft. Almut Aues Zyklus ist insofern auch eine feministische Invektive gegen die weibliche Opferhaltung.
Ob es die adelige Tischgesellschaft ist, vor der Nastagio seinen bösen Traum inszeniert; ob es der Familientisch ist, an dem gerade ein Ehrenmord beschlossen wird, oder ob es der Stammtisch ist, an dem man auf Kosten der Frauen Witze reißt: Es ist der männliche Trieb, den Almut Aues aggressive Stenogramme in seiner Rohheit entlarven.